Mein erster Lost Place: Zwischen Faszination, Grenzen und großem Respekt
In meinem letzten Beitrag war ich noch mitten im Trubel der Stadt unterwegs – heute ging es zurück auf vertrautes Terrain: raus in die Natur. Auch wenn ich noch nie einen Lost Place besucht habe, hat mich die Vorstellung sofort gepackt – vor allem, weil viele dieser Orte mitten in der Natur liegen. Genau mein Ding.
Diesmal ging es um mehr als nur ein neues Fotomotiv. Es ging darum, die Atmosphäre vergessener Orte zu erleben, die Geschichte in bröckelnden Fassaden zu spüren und herauszufinden, wo die Faszination für diese Art der Erkundung eigentlich herkommt.
Urban Exploration – was steckt dahinter?
Verlassene Orte ziehen seit vielen Jahren Menschen in ihren Bann. Für einige ist es ein echtes Hobby – sie nennen sich “Urbexer”, abgeleitet von Urban Exploration. Dabei geht es um das Entdecken, Dokumentieren und Fotografieren von verlassenen Gebäuden, die längst nicht mehr in Benutzung sind, aber oft noch viel zu erzählen haben.
Online gibt es dafür eigene Karten, Foren und Communitys, in denen sich Gleichgesinnte austauschen, Tipps teilen oder auch Standorte verraten – sortierbar nach Kategorien wie Wohnhäuser, Industriegelände oder Krankenhäuser. Die Entscheidung fiel auf ein Wohnhaus, in der Hoffnung, dort sichtbare Spuren des früheren Lebens zu entdecken.
Der rechtliche Rahmen – oft eine Grauzone
Verlassene Gebäude wirken oft wie Niemandsland – sind es aber in den seltensten Fällen. Meist gehört das Grundstück und das, was darauf steht, noch jemandem. Das Betreten ohne Erlaubnis stellt deshalb eine Ordnungswidrigkeit dar: Hausfriedensbruch. Wird dabei etwas beschädigt oder sich gewaltsam Zutritt verschafft, handelt es sich sogar um eine Straftat.
Im Vorfeld wurde bewusst darauf geachtet, nur Orte auszusuchen, bei denen laut Erfahrungsberichten keine verschlossenen Türen oder Fenster zu erwarten waren. Keine Gewalt, kein Einbruch – das war Voraussetzung. Denn neben dem rechtlichen Aspekt steht auch der moralische im Raum: Der Reiz liegt im Erkunden, nicht im Zerstören.
Verlassene Gebäude und Anlagen, sogenannte „Lost Places“, sind oft erheblich einsturzgefährdet. Ursachen dafür sind der natürliche Verfall über Jahre oder Jahrzehnte hinweg, fehlende Instandhaltung sowie die stetige Rückeroberung durch die Natur – etwa durch eindringende Feuchtigkeit, wuchernde Pflanzen oder Wurzeln, die Mauern und Fundamente destabilisieren. Tragende Strukturen können geschwächt oder bereits beschädigt sein, Dächer und Decken instabil, Böden durchgefault oder unterspült. Zusätzlich besteht häufig Verletzungsgefahr durch lose Bauteile, rostige Metallteile, Glasscherben oder verdeckte Schächte.
Das Betreten solcher Orte erfolgt grundsätzlich auf eigene Gefahr und sollte niemals alleine erfolgen.
Was überhaupt nicht geht: Respektlosigkeit
Schon beim ersten Ort wurde deutlich, wie wichtig ein verantwortungsvoller Umgang mit solchen Plätzen ist. Einige der vorgefundenen Spuren waren schockierend – nicht wegen des natürlichen Verfalls, sondern wegen des offensichtlichen Vandalismus.
Mitten im Stall stand eine improvisierte Feuerstelle. Ein offenes Feuer – in einem alten Gebäude, umgeben von trockenem Gras und Wald. Ein Akt grober Fahrlässigkeit, der auch Menschen und Tiere in Gefahr bringen kann. Noch dazu wurden Fenster eingeschlagen, Graffiti an die Wände gesprüht. Solche Taten stehen im klaren Widerspruch zu dem, was Urban Exploration eigentlich bedeuten sollte.
Das Erkunden solcher Orte lebt vom Entdecken, vom Staunen – nicht vom Zerstören. Wer einen Lost Place besucht, sollte ihn so verlassen, wie er ihn vorgefunden hat. Kein Müll, keine Spuren, kein Schaden. Der Reiz liegt in der Geschichte des Ortes – und nicht in der Verwüstung.
Location 1: Verlassener Hof im Grünen
Der erste Ausflug führte zu einem alten, verlassenen Hof am Rand der Stadt. Die Fahrt dorthin dauerte etwa 25 Minuten – ein guter Abstand zur Zivilisation. Laut Karte sollte es sich um ein größeres Grundstück mit Stall und Wohnhaus handeln. Bei der Ankunft: Der Rasen war frisch gemäht. Zweifel kamen auf, ob der Ort tatsächlich verlassen ist.

Trotzdem führte ein deutlicher Trampelpfad durch einen dichten Dornenbusch – der Eingang zum Stall war mit Spinnenweben überzogen, aber eindeutig genutzt. Spinnen gelten seit jeher als persönlicher Endgegner. Trotzdem wurde der Mut zusammengenommen und das Gebäude betreten.
Im Inneren war der Stall leergefegt – bis auf ein paar Überbleibsel vergangener Zeiten: eine alte Werkbank, ein Anhänger, ein riesiger Kessel (dessen Zweck unbekannt blieb) und eine Leiter. Doch was am meisten störte, war die große Feuerstelle mitten im Stall. Offenbar hatten hier Personen ohne Rücksicht auf Verluste ein Lagerfeuer entfacht.
Auch die Wände waren übersät mit Graffiti. Alles zusammen wirkte wie eine Mischung aus Verlassenheit und Zerstörung. Es fiel schwer, sich auf die Atmosphäre einzulassen – zu viel war hier bereits beschädigt worden. Der Blick richtete sich auf das eigentliche Ziel: das Wohnhaus. Der Weg dorthin war kaum begehbar, das Grundstück völlig überwachsen. Der Haupteingang mit Briefkasten war nur schwer zu erkennen, das Dach in Teilen bereits eingefallen. Allein der Anblick reichte, um zu wissen: Hier endet das Abenteuer.

Der Zustand des Hauses war zu instabil, das Risiko zu groß. Kein Ort für eine ruhige und sichere Besichtigung,. Die Entscheidung, das Gelände zu verlassen, war eindeutig.
Location 2: Ehemalige Mühle – zwischen Tanzfläche und Stillstand
Die zweite Location wirkte auf den ersten Blick vielversprechender. Laut Internet sollte es sich um ein altes Gebäude handeln, das zunächst als Mühle diente, später zur Gaststätte wurde – und in einem letzten, fast absurden Wandel, sogar als Disco genutzt wurde. Allein diese Entwicklung – von der Produktion von Mehl, über gesellige Familientreffen bei Schnitzel und Bier, bis hin zu durchgetanzten Nächten auf blinkenden Fliesen – ließ den Ort fast wie ein eigenes kleines Zeitdokument wirken.

So viele Lebensrealitäten, Bedürfnisse und Generationen haben dieses Gebäude geprägt – und genau darin lag der eigentliche Bruch: Wo einst gefeiert, gegessen oder gearbeitet wurde, herrschte heute absolute Stille. Keine Musik, kein Lachen, kein Leben. Nur noch die Hülle.
Der Weg dorthin führte durch einen dichten Wald – etwa einen Kilometer von der nächsten befestigten Straße entfernt. Der Ort lag wirklich „im Nirgendwo“. Bereits beim Näherkommen fiel das rot-weiße Absperrband auf, das deutlich machte: Besuch ist hier nicht erwünscht.

Die Türen waren abgeschlossen, die Fenster waren geschlossen oder mit Brettern vernagelt – bei zweien war offensichtlich schon einmal eingebrochen worden, was der Besitzer später mir Brettern gesichert hatte. Ein stiller Hinweis darauf, wie oft solche Orte eben doch nicht mit dem nötigen Respekt behandelt werden.
Und doch: ein Blick ins Innere war möglich. Alte Gasthaustische und -stühle standen noch ordentlich im Raum, fast so, als könnte gleich jemand die Tür aufmachen und „Reserviert!“ rufen. In der Mitte: ein Rasenmäher. Ein fast grotesker Kontrast zum eigentlichen Verwendungszweck des Raums, aber auch ein Zeichen, dass sich wohl jemand zumindest zeitweise um das Grundstück kümmert.

Ein anderes Fenster erlaubte einen Blick in die Küche – eine wunderschöne, wenn auch stark gealterte Kachelküche. Solche Details machen die Vorstellung greifbar. Auch der Geruch im hinteren Bereich erinnerte stark an alte Gaststättentoiletten – ein weiterer Anker in der Vergangenheit.
Der Zustand war auffällig gut: kaum Vandalismus, keine zertrümmerten Möbel oder zerstörte Räume. Und das, obwohl das Gebäude so lange leer steht. Vielleicht lag genau darin der Grund, warum es sich hier falsch anfühlte, weiter zu gehen. Der Respekt vor dem Ort – und vor der Geschichte, die er in sich trägt – wog schwerer als der Reiz, das Innere zu erkunden.
Was bleibt: Spuren der Geschichte
Die Informationen zur zweiten Location, der Thielenbach Mühle, waren nicht einfach zu finden. Erst nach längerer, gezielter Recherche ließ sich ein klareres Bild zusammensetzen – gut zwei Stunden gingen dabei für alte Artikel, veraltete Branchenverzeichnisse und verschiedene Onlinequellen ins Land.
Fest steht: Die Mühle wurde in den 1960er- bis 1970er-Jahren von einer Frau M. Pathenschneider übernommen und lange Zeit als Lokal betrieben. Ob sie tatsächlich, wie mancherorts behauptet, zwischenzeitlich als Disco oder Landgasthof genutzt wurde, bleibt unklar. Was sich jedoch sicher sagen lässt: Zuletzt war dort ein griechisches Restaurant ansässig.

Im Zusammenhang mit der Führung taucht auch der Name Sartoris auf, dessen Herkunft sich allerdings nicht eindeutig zuordnen ließ. Um 2020 wurde der Betrieb schließlich eingestellt – aus gesundheitlichen und wirtschaftlichen Gründen. Die Szenerie vor Ort – verschlossene Türen, eingerichtete Räume, verlassene Küche – bestätigt diese Zeitlinie.
Versuche, Kontakt zur früheren Betreiberin aufzunehmen, verliefen ins Leere. Weder Telefonnummer noch E-Mail-Adresse waren aktiv, auch der Facebook-Account lieferte keine neuen Anhaltspunkte. Inzwischen liegt die Eigentümerschaft bei einem niederländischen Käufer, dessen Identität unklar ist und der offenbar bisher keine Nutzung des Geländes vorsieht.

Die Spuren vor Ort lassen erkennen, dass hier über Jahre hinweg gearbeitet und gelebt wurde. Heute wirkt alles eingefroren – als hätte der letzte Tag einfach nie einen Abschluss gefunden.
Fazit: Ein Anfang mit Haltung
Keiner der besuchten Orte wurde von innen ausführlich besichtigt – was im ersten Moment ernüchternd wirkte, stellte sich letztlich als die richtige Entscheidung heraus. Die Regeln wurden eingehalten, Grenzen respektiert. Und genau das war die Erfahrung: Urban Exploration bedeutet nicht, sich irgendwo hineinzudrängen – sondern achtsam zu sein, zu beobachten, zu würdigen.
Die Faszination bleibt. Es war wie eine stille Zeitreise – mit Momenten des Staunens, aber auch Momenten des Zweifelns. Und mit einem klaren Bewusstsein dafür, dass es nicht reicht, einfach nur neugierig zu sein. Es braucht Verantwortung.
Wer einen Lost Place betritt, betritt auch ein Stück Vergangenheit. Und mit Vergangenheit sollte man respektvoll umgehen – ganz besonders, wenn niemand mehr da ist, der sie verteidigen kann.
